Text & Fotos: Gülpinar Günes
Domenic Godly hält an und zögert einen Moment. Soll er fragen oder soll er nicht? Schliesslich möchte er meine Kamera ausleihen, um die Kreuzottern zu fotografieren, die sich irgendwo am Geröllhang vor uns paaren. Ich hätte sie nie entdeckt, hätte mich Domenic nicht auf sie hingewiesen. Er aber hat sie über Jahre hinweg im Park beobachtet und freut sich über ihren Fortpflanzungsakt, der bis zu einer Stunde dauern kann, wie er mir erläutert. «Das Männchen hat mich zwar böse angeschaut, aber sich nicht weiter stören lassen», sagt Domenic, nachdem er die Fotos gemacht hat. «Du hast ihn auch bei einem wichtigen Akt gestört», sage ich. Wir lachen.
Domenic ist seit 24 Jahren Parkwächter im einzigen Nationalpark der Schweiz, im Kanton Graubünden, und steht kurz vor der Pensionierung. Er ist an jenem Maimorgen mein Guide in dem Tal, das er kennt wie seine Westentasche: die Val Trupchun. Als ich ihn nach einer langen Zugfahrt im Herzen des Engadins antreffe, lassen wir Förmlichkeiten sein. Er ist Domenic und ich Gülpinar. In einem weissen Suzuki Jimny fährt er uns an die Pforten des Nationalparks und des wildreichsten Tals Europas. Ich bin schon seit der Ankunft in Graubünden überwältigt von der Natur, die tagtäglich Domenics Büro ist und habe viele Fragen an ihn. Er im Gegenzug hat viele Geschichten und Erinnerungen zu erzählen, die seine 24 Lebensjahre im Park geprägt haben.
Zwei Kreuzotter bei der Paarung. Foto: Domenic Godly
Den Nationalpark entdecken
Auf dem knapp fünf Kilometer langen Wanderweg zur Alp Trupchun am Ende des Tals hält Domenic immer wieder an. Nicht um zu verschnaufen, der 64-Jährige ist fitter als ich und macht die Strecke unzählige Male pro Jahr. Nein. Er bleibt stehen und holt sein wichtigstes Arbeitsinstrument hervor: den Feldstecher, den er stets auf der Höhe seines Herzens trägt. Einmal richtet er die Linse auf einen scheinbar leeren Felsen gegenüber von uns, wo die ersten sommerlichen Sonnenstrahlen das Gestein erwärmen. Da blühe was Spezielles, sagt er mir, aber ich sehe nichts. Erst als er mir den Feldstecher reicht, erblicke ich es auch, das Schweizer Mannsschild (Andrósace helvética): Kleine Büschel mit winzigen leuchtend weissen Blüten, fast wie Schneebälle hocken sie auf dem Gestein. Das Mannsschild komme mit sehr wenig Wasser aus, erzählt Domenic. Und die verwelkten Blüten verwerte es als Dünger wieder. So könne die Pflanze an Felsen auf über 3000 Metern über Meer überleben.
Mit seiner Leidenschaft für die Botanik, die er seit seiner Kindheit pflegt, und seinem scharfen Auge hat Domenic schon so manches seltene Blümlein entdeckt, das im Tal blüht. Den Tiroler Tragant (Astràgalus leontínus) etwa hat vor ihm 100 Jahre lang kein anderer Mensch in diesem Gebiet dokumentiert.
«Jeder Parkwächter hat so seine Spezialität – für mich sind Pflanzen das Allerschönste. Wenn etwas Neues blüht, fällt mir das sofort auf.»
Auch grössere Auffälligkeiten entgehen ihm nicht. So fand er einst auf einer Tour im Brunftgebiet der Hirsche mehrere Dinosaurierspuren an einer Felswand, die es als Gussformen sogar in die Ausstellung im Nationalparkzentrum geschafft hatten. Heute hängen sie bei ihm zuhause, erzählt Domenic stolz bei einem weiteren Halt auf dem Weg zur ehemaligen Alphütte und Aussichtsplattform.
Das Wild schützen
Den Wanderweg durch das Tal hat der Wächter erst einige Tage vor meinem Besuch wieder geöffnet. Davor herrschte noch die Wintersperre und nur wenige Touristen sind an jenem Morgen unterwegs. Wir treffen in der Nähe eines Waldes auf zwei ältere Herren, die sich mit ihren schweren Fotokameras auf einem Stein abseits der Route niedergelassen haben und Ausschau nach Wild und Vögeln halten. «Bitte auf dem Weg bleiben», ermahnt sie Domenic, seine Stimme autoritär, aber freundlich. Die Männer gehorchen. Denn nur die Parkwächter dürfen die Wege verlassen und das nur mit triftigem Grund. Die oberste Priorität hat auch für sie der Schutz von Pflanzen und Tieren. Jede noch so kleine Abweichung von dem, was sich die Tiere gewohnt sind, kann diese erschrecken und verscheuchen. Sogar so sehr, dass sie nicht mehr an diesen Standort zurückkehren, wie mir Domenic erzählt.
Durchschnittlich verteile er daher bis zu 30 Bussen pro Jahr an Besucher, die sich nicht an die Regeln des Nationalparks halten und entweder mit Hund oder mit dem Mountainbike unterwegs sind. Einmal habe er auch eine ganze Schulklasse wegschicken müssen oder einen Herrn, der ins Alphorn blies. «Ich spiele nicht gerne Polizist, aber manchmal muss man.» Zu seinen Aufgaben als Parkwächter gehören aber weit mehr als Pflanzen, Besucherführung und Vollzug der Parkregeln, wie mir immer klarer wird, je weiter wir ins Tal wandern.
Harter, abwechslungsreicher Job
Jeder der insgesamt acht Parkwächter im Nationalpark hat eine umfangreiche Ausbildung hinter sich, muss körperlich fit und mit der Natur im Engadin vertraut sein. Die meisten bringen bereits Arbeitserfahrung in einem handwerklichen Beruf mit, waren vorher beispielsweise Elektriker oder Schreiner. Aber auch kaufmännisches und insbesondere naturbezogenes Wissen ist gefragt. Bevor sich Domenic mit 40 Jahren gegen 68 weitere Bewerber für die freie Stelle im Nationalpark durchgesetzt hatte, war er Forstwart und leidenschaftlicher Jäger in seinem Heimatort Brail. Danach machte er als Parkwächter die Ausbildung zum Wildhüter, wo er sein Wissen in Biologie, Ökologie, Wildtieren, Ornithologie und Jagdmanagement vertiefte.
Während der Hauptsaison im Sommer und Herbst sind die Besucher tatsächlich ein wichtiger Teil des Programms der Parkwächter. Doch auch ausserhalb der Saison geht ihnen die Arbeit nicht aus. Sie sind bei Wind und Wetter unterwegs in teils steilem Gelände und stellen beispielsweise Foto- und Wildfallen auf, dokumentieren den Wildbestand in den Tälern des Parks und statten hin und wieder Wildtiere mit Senderhalsbändern aus, um ihre Wanderungen zu erforschen. Im Büro werten sie dann tausende Fallenfotos und die Informationen der Sender aus.
Im Moment ist besonders der Wolf ein aktuelles Thema im Park: Im Kanton Graubünden leben bereits mindestens zehn Rudel und es ist wohl eine Frage der Zeit, bis sich das erste Rudel auch im Nationalpark ansiedelt. Deshalb versuchen das Parkwächterteam und Forscher aus der ganzen Schweiz herauszufinden, wie sich deren Anwesenheit auf den Bestand und das Verhalten der Huftiere wie Gämsen, Hirsche oder Rehe im Park auswirkt. «Der Wolf ist willkommen im Park», sagt Domenic aufgeregt. Es gehöre zum Grundprinzip des Nationalparks, natürliche Prozesse geschehen zu lassen. Eine Regulierung steht daher ausser Frage. «Genauso wie wir Lawinen oder Murgänge zulassen, so lassen wir auch zu, dass der Wolf zurückkommt.» Als Ur-Bündner aber hat er persönlich eine differenziertere Meinung zum Raubtier.
Ein Job für Beobachter
Die ehemalige Alp Trupchun rückt allmählich in Sichtweite. Hinter der alten Hütte erstreckt sich der weiss bedeckte Piz Chaschauna. Seinen Auftritt untermalt das Plätschern des türkisblauen Bergbachs Ova da Trupchun, der mitten durch das Tal in Richtung S-chanf fliesst. Auf den grünen Hängen links und rechts des Weges entfaltet sich ein Wildspektakel, wie man es in der Schweiz wohl nur hier beobachten kann. Von blossem Auge erkenne ich die Tiere kaum, aber mein Guide lässt mich nicht hängen. Als wir bei der Hütte ankommen, baut er ein Fernglas auf und blickt einige Momente lang durch die Linse, bevor er mich voller Vorfreude zu sich winkt. Und tatsächlich heben sich durch die Linse weit oben am Hang braune Gestalten mit langen Hörnern vom beige-grünen Hintergrund ab: Alpensteinböcke.
An den Anblick der majestätischen Tiere hat sich Domenic wohl auch nach 24 Jahren im Dienst nicht gewöhnt, zumindest ist seine Freude immer noch ansteckend. In zahlreichen Fotografien und Videos hat er die Tiere im Park schon festgehalten, auch das gehört zum Handwerk der Parkwächter. Ich realisiere aber erst langsam, dass ich deren Meister angetroffen habe. Unaufgeregt erzählt Domenic mir zwischen prüfenden Blicken an die Hänge und einem Biss in sein Sandwich, dass seine Aufnahmen es bereits in zahlreiche Dokumentarfilme von Arte geschafft haben und heute noch verwendet werden. Auch im Schweizer Fernsehen hatte er mehrmals einen Auftritt.
«Das war der Höhepunkt meiner Karriere», sagt er, lacht und blickt in die Ferne. Die anstehende Pensionierung erfüllt ihn mit Wehmut, das spürt man. Eine seiner schönsten Begegnungen hatte der 64-Jährige in all den Jahren aber erst vor kurzem, als er einer Wölfin Auge in Auge gegenüberstand. «Ich hatte keinen Augenblick Angst – es war wunderschön.»
Zeit zum Philosophieren
Als wir zurückmarschieren, philosophieren wir über Gott und die Welt, begleitet von Vogelgezwitscher und Murmeli-Pfiffen. Ich frage ihn, was ihn der Park in all den Jahren gelehrt hat. Er hält kurz Inne. «Er hat mich nachdenklich gemacht», sagt er schliesslich. «Ich habe gelernt, wie man mit der Natur leben müsste und was der Mensch alles falsch macht.» Unser Umgang mit Leben und Tod sei aus dem Gleichgewicht geraten. Hier im Park aber habe die Natur noch die Oberhand.
Domenic hat eine ganz besondere Beziehung zur Natur, fast so, als ob er nach 24 Jahren aktiver Teil davon geworden wäre. Mich als Büro-Hocker fasziniert das. Er nimmt wahr, wie sich die jungen Triebe der Fichten entwickeln, weiss, welcher Vogel gerade seine wunderschöne Melodie pfeift und welch seltene Blüte den kargen Geröllhang ziert. 24 Jahre aber seien nicht genug.
«Es braucht fünf Menschenleben, um die Natur komplett zu verstehen.»
Um die Zusammenhänge und das Ökosystem vollumfänglich zu begreifen. Etwa, welchen Einfluss der Klimawandel auf die Tiere hat oder warum der Blaue Eisenhut (Aconítum napéllus) nur auf Weiden wächst, wo früher Kühe grasten. «Es ist aber der schönste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Besser als ein Sechser im Lotto.» Er lacht.
Domenic Godly ist ein Bergmensch durch und durch. Auch in seiner Freizeit klettert er auf Bergspitzen oder besucht die umliegenden alpinen Nationalparks. Seine Tochter und sein Sohn haben die Leidenschaft für die Natur ebenfalls geerbt: Sie ist Floristin, er leitet das Alpinkader der Bündner Kantonspolizei. Und den Enkelkindern wird es wohl nicht anders ergehen. Domenic freue sich schon darauf, ihnen nach der Pensionierung den Nationalpark in all seinen Facetten zeigen zu können. «Es gibt schon den einen oder anderen Lieblingsplatz, den ich nach der Pensionierung gerne wieder besuchen werde», sagt er.
Aber er spüre auch, wie der Job mit 64 Jahren langsam anhängt. Mit den jungen Wächtern könne er nicht mehr mithalten. «Ich freue mich sehr auf die Pensionierung. Aber andererseits geht auch eine sehr schöne Zeit zu Ende.» Auch für mich endet nach einigen Stunden der Ausflug in den wilden Nationalpark, mit dem Vorsatz, bald wieder einmal mit einem Feldstecher zurückzukehren
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